Mehr Selbstbewusstsein für populäres Musiktheater!

Ein öffentlicher Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung des Institut für Musik (IfM) Osnabrück Am 22.10. 2015

In einer polarisierten Gesellschaft könnte das Musical eine kulturelle Wunderwaffe sein. Aber nicht nur die hochsubventionierte Staatstheaterkultur hält das Genre klein – auch die Branche selbst traut sich oft zu wenig.
Krams Vortrag vor Studierenden des IfM zeigt das gesellschaftspolitische Potenzial des Musicals auf und plädiert für ein neues Selbstverständnis seiner Macherinnen und Macher. Er fordert, die Kraft des Genres mutiger zu nutzen: für das Musical, für die Gesellschaft – und für die eigene künstlerische und persönliche Identität.

Von Johannes Kram



Wenn man in Deutschland sagt, man macht was mit Musical, bekommt man oft diesen leicht mitleidigen Blick:
Ach, Musical! Nett, ja, macht bestimmt Spaß – aber warum machst du kein richtiges Theater?

Aber sobald es um Oper geht, werden die Leute ehrfürchtig.
Oper, Hochkultur!

Dabei erzählen beide von denselben Dingen – Liebe, Macht, Freiheit, Unterdrückung. Nicht die Themen machen den größten Unterschied, sondern das Image.

Und das ist, wie ich heute ausführen möchte, zuallererst kein ästhetisches und auch kein künstlerisches Problem, sondern ein gesellschaftliches! Wir brauchen in unserer Gesellschaft mehr Musical. In unserer polarisierten Gesellschaft könnte das Musical so etwas wie eine kulturelle Wunderwaffe sein. Wie und wieso, möchte ich anhand von neun Thesen erläutern.

These 1: Oper wird überschätzt – Musical wird unterschätzt

In Deutschland gilt: Oper ist Hochkultur, Musical ist Unterhaltung.

Aber was heißt das eigentlich?

Hochkultur, so muss man das sagen, bedeutet vor allem: „hoch“ im Etat! Opernhäuser bekommen Millionen an Subventionen, während populäres Musiktheater auf sich selbst gestellt ist – und trotzdem oft die Säle füllt.

Und wer sitzt im Opernpublikum? Überwiegend älter, überdurchschnittlich gebildet, überdurchschnittlich wohlhabend. Kurz gesagt: dieselben Leute, die ohnehin schon überall dabei sind, mitreden, mitentscheiden.

Das Publikum der Musicals sieht anders aus – quer durch Generationen, Herkünfte und Lebenswelten. Hier kommen auch die Menschen hin, die sich sonst kaum in ein Theater verirren würden.

Und während in der Oper ständig behauptet wird, man müsse „aktuell“ sein – etwa indem man denkt, in einer Wagner-Oper Hakenkreuzflaggen hissen zu müssen, den Gefangenenchor aus Aida nach Guantánamo zu verfrachten. –passiert im Musical genau das Gegenteil: Es braucht keine Zwangsaktualisierung. Es ist, wenn es gut gemacht ist, ohnehin mitten in der Gegenwart.

Wenn Aktualität nur zur Dekoration benutzt wird, dann soll das auf irgendeiner Ebene relevant sein. Ist es aber nicht. Welche Erkenntnis, welche Debatte löst eine zwangsaktualisierte Oper aus? Was sagt sie uns über die Nazis? Was über Guantánamo? Was sagt sie uns, was nicht schon alle wissen?

Ich liebe Oper! Aber warum können wir in Deutschland nicht einfach sagen: Große Oper ist - zumindest auch! - große Unterhaltung? Was ist daran verkehrt?

These 2: Musical ist demokratisch

Musical braucht kein Vorwissen und keinen Dresscode.

Hier sitzen alle Bildungsabschlüsse, hier sitzen die aus dem Luxushotel und die aus dem Reisebus. Schülerinnen neben Rentnerinnen, neben Managerinnen. Migrantinnen neben „Bio-Deutschen“, Erstbesucherinnen neben Fans. Und alle erleben dasselbe – durch Musik, Emotion und Geschichte.

Das Musical funktioniert, weil es Zugang schafft, wo andere Künste Grenzen ziehen. Es übersetzt komplizierte Themen in Emotion – und das ist nicht unbedingt ein Mangel an Tiefe, sondern ganz oft ein Gewinn an Verständlichkeit.

These 3: Musical schafft Empathie und Perspektivwechsel

Im Musical passieren wundersame Dinge. Hier öffnet die Musik Räume, verwandelt Konfrontation in Nähe. Konfrontation wird zu Neugier, Neugier wird zu Annäherung, Annäherung zu Verständnis.

Rent bringt queere Lebensrealitäten, HIV und Armut mitten in den Mainstream. Hamilton erzählt amerikanische Geschichte mit Rap und Diversität – und erreicht damit Zielgruppen, die vom klassischen Theater oft längst abgeschrieben wurden.

Musical ist kein Diskursmedium – es ist ein Empathiemedium. Es macht auch Dinge fühlbar, die wir rational längst kennen, aber emotional verdrängt haben. Ein Lied kann sagen: „Ich bin einsam“ – und du fühlst es. Ein Duett kann sagen: „Ich verstehe dich nicht, aber ich will es versuchen“ – und du erlebst es.

Musical ist Empathie in Echtzeit. Es nimmt Themen, die im Diskurs trennen, und verwandelt sie in gemeinsame Erfahrung. Das ist keine Flucht vor der Wirklichkeit, sondern ein Weg, sie auszuhalten. Und das IST politisch.

These 4: Musical ist politisch, weil Emotionen politisch sind

Es gilt als unfein, Politik mit Emotionen zu verbinden, und es gibt ja auch gute Gründe dafür. Aber die Wahrheit ist auch: Politik ist und war immer schon emotional. Menschen treffen keine Entscheidungen aufgrund von Fakten allein, sondern aufgrund von Gefühlen.

Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner fordert in ihrem Buch Radikal emotional – Wie Gefühle Politik machen unser übliches Verständnis von angeblich „rationaler Politik“ zu überdenken. Sie sagt: Emotionen prägen den größten Teil politischer Meinungsbildung. Deshalb sollten wir Emotionen auch im Umfeld von Politik nicht bekämpfen, sondern verstehen.

Aber was hat das mit Musical zu tun?

Durch das gemeinsame Erleben einer Geschichte mit Musik begegnen wir Figuren und Themen, die sonst Abwehr in uns auslösen, mit Empathie und Neugier. Wir können Nähe zulassen – und unsere Vorstellungen dadurch neu denken. Durch Nähe können wir wachsen.

Wenn wir akzeptieren, dass Politik ohnehin immer auch Gefühl ist, sollten wir auch akzeptieren, dass dies das Genre Musical politisch macht: Es verbindet Emotion und Erzählung, macht Konflikte spürbar und Perspektiven erfahrbar. Und genau das brauchen demokratische Gesellschaften – emotionale Bildung.

„Life is a cabaret, old chum – come to the cabaret.“

These 5: Gute Unterhaltung ist Haltung – Optimismus ist Widerstand

Unsere gesellschaftliche Grundstimmung ist nicht gerade von Optimismus geprägt. Wir leben in einer Zeit von Rückzug, Resignation und Rechthaberei. Gute Laune gilt als naiv – als ob man die Probleme der Welt nicht verstanden hätte.

Dabei ist das Gegenteil richtig: Gute Laune ist das Gegenteil von Angst. Sie ist Sichtbarkeit, Verletzlichkeit, Mut. Wer gute Laune hat, steht für etwas. Wer singt, zeigt sich. Und wer tanzt, riskiert auch, manchmal ausgelacht zu werden. Und genau das alles macht es politisch.

Ob er oder sie es will oder nicht: Wer heute Musical studiert, setzt einen Kontrapunkt. Er verlässt sich nicht auf Sicherheit. Er traut sich was. Er macht sich sichtbar, angreifbar. Er versteckt sich nicht hinter Zynismus. Er glaubt an so etwas wie Gemeinschaft. Und das Krasseste: Er setzt auf Zukunft.

In einer Zeit der Resignation ist Optimismus Widerstand!

These 6: Musicals können das Jetzt verändern

Musicals können nicht nur Geschichte erzählen, sie können Geschichte auch vorantreiben. Viele entstanden nicht nach einem Wandel, sondern im Wandel. Sie wirken also im Jetzt, befeuern das Jetzt, verändern das Jetzt.

Hair (1968) war nicht das Nachspiel der 68er-Bewegung, es war ihr Soundtrack. Rent (1996) brachte queere Identität, Armut und HIV in die Öffentlichkeit, als die Gesellschaft noch schwieg. Hamilton (2015) brachte Diversität, Popkultur und postkoloniales Denken mitten in den Mainstream.

Doch schauen wir uns mal Musicals in Deutschland an: Wo werden gerade Musicals gespielt, die über unsere Zeit erzählen? Ja, es liegt auf der Hand, dass man aus Märchen und Historiendramen Musicals macht. Aber das deutsche Musical hat einen regelrechten Märchen- und Historiendramen-Fetisch!

Natürlich kann man das – siehe nicht nur Hamilton – auch gut machen, und natürlich sind Stücke über die jüngste deutsche Vergangenheit wichtig, gerade in Zeiten des neuen Rechtspopulismus. Doch was soll all der andere Historienkram?

Natürlich kann man da gute Bezüge herstellen zu unserer Zeit, zu unseren Themen. Doch warum immer nur Bezüge, wenn man auch direkt davon – also direkt von heute, direkt aus unserer Zeit – erzählen kann?

Ich glaube, dass ich bei der letzten Preisverleihung zum Musicaltheaterpreis über eine Dreiviertelstunde da gesessen habe, bis endlich irgendetwas auf der Bühne gezeigt wurde, das mit unserem Leben heute zu tun hatte. Das war aus Ku’damm 59 – zwar auch Historie, aber es ging endlich, endlich um etwas: ein Lied über Emanzipation. Das Stück war aber gar nicht nominiert.

Der Deutsche Musical Theaterpreis ist ja auch eine Bestandsaufnahme der Branche. Also: Wo steht das deutsche Musical, also rein vom Stoff her? Ich hab mal bei allen Musicals, die letztes Jahr in irgendeiner Kategorie nominiert waren, nachgeschaut, wann die Handlung eigentlich spielt:

„Die Königinnen“ – Es geht um Maria Stuart und Elisabeth I., spielt Mitte/Ende 16. Jahrhundert.
„Die Gänsemagd“ – Märchen der Brüder Grimm, aufgeschrieben im frühen 19. Jahrhundert, aber wir wissen: ist noch viel älter.
„Sterntaler“ – auch wieder Grimm, auch wieder sehr, sehr alt.
„Kasimir und Karoline“ – nach dem Volksstück von Ödön von Horváth, spielt Ende 1920er/Anfang 1930er Jahre.
„Die Päpstin“ – beruht auf der mittelalterlichen Legende, spielt im 9. Jahrhundert.
„Der Mann, der Sherlock Holmes war“ – nach den Erzählungen von Arthur Conan Doyle, spätes 19. Jahrhundert.
„Die Rückkehr von Peter Pan“ – ist ja kein historischer, sondern ein fantastischer Stoff, aber auch der entstand um 1904/1905.
Und dann: „Oh! Oh! Amelio!“ – das war das einzige Stück, das in der Gegenwart spielt.

Das deutschsprachige Musical, zumindest auf preiswürdiger Ebene, spielte im Jahr 2024 also statistisch gesehen im Jahr 1602!

Warum? Warum gibt es zum Beispiel kein großes Musical über die Geschichte der Gastarbeiter, ihrer Kinder und Enkel? Wie spannend wäre das: traditionelle türkische Musik, arabische Klänge, vielleicht auch Hip-Hop aus Kreuzberg – nicht als Deko, sondern als Herzstück eines neuen populären deutschen Musicals.

Und wie spannend wäre es, eine Geschichte zu erzählen, die nicht nur für die vielen Menschen mit türkischem oder anderem Migrationshintergrund relevant ist, sondern für alle, die hier leben – die mit, und die ohne.

Klar, da sagen die Theater dann: „So ein Stoff ist uns noch nicht angeboten worden.“ Tja, muss man ihnen sagen: Dann müsst ihr halt was tun. Dann müsst ihr euer subventioniertes Staatsgeld eben auch mal ins Musical investieren – und euch was Neues trauen. Und auch richtiges Geld in Marketing investieren. Und nicht nachher wieder sagen: „Wir haben ja was Diverses versucht, aber es wollte ja keiner sehen.“ Wenn es wirklich keiner sehen wollte, dann war es eben nicht gut. Oder nicht gut genug. Nicht ausreichend finanziert. Oder nicht gut beworben. Oder beides.

Bitte versucht’s, riskiert was! Bitte nicht immer nur wieder dieselben Stoffe, dieselben Klassiker, dieselben sicheren Nummern. Mut ist übrigens auch eine Form von Kulturförderung.

Musical kann das Jetzt verändern – aber nur, wenn es das Jetzt auch wirklich meint. Sich das Jetzt auch wirklich traut.

These 7: Identität ist Voraussetzung für Teilhabe und Emanzipation

Identität ist keine Modeerscheinung. Sie ist eine Grundlage von Demokratie. Denn politische Teilhabe beginnt immer mit Selbstwahrnehmung: Nur wer sich selbst erkennt, kann sich öffentlich äußern. Und nur wer sich äußern darf, kann etwas verändern.

Darum ist Identität politisch – immer. Sie entscheidet, wer mitreden darf, wer gesehen wird, wessen Erfahrungen als gültig gelten. Wenn Gruppen ihre Identität finden, formulieren sie nicht nur ein Ich, sondern ein Wir. Und dieses Wir ist die Basis jeder Emanzipation.

In allen politischen Bewegungen – von Arbeiter*innen über Feministinnen bis zu queeren Communities – waren Songs und Hymnen immer der emotionale Kitt. Sie geben Kraft, bündeln Energie, schaffen Zugehörigkeit.

We Shall Overcome war eine Bürgerrechtshymne, Born This Way ist queerer Selbstschutz in Popform. Solche Lieder sagen: Ich bin da – und ich bleibe.

Genau das tun auch Musicals. Sie erzählen Geschichten von Identität im Werden – und sie liefern die Hymnen, die diese Geschichten über die Bühne hinaus tragen.

I Am What I Am aus La Cage aux Folles – ein Lied, das queere Selbstbestimmung zu Stolz gemacht hat.
Defying Gravity aus Wicked – weibliche Selbstermächtigung in einem patriarchalen System.
You Will Be Found aus Dear Evan Hansen – mentale Gesundheit, Zugehörigkeit, Solidarität.

Diese Songs sind nicht nur Teil eines Stücks, sie gehören den Menschen. Sie sind Manifest, Trost, Protest und manchmal auch Gebet zugleich.

Musicals machen Identität sichtbar – und Sichtbarkeit schafft Teilhabe. Das ist kulturelle Emanzipation in Reinform.

Musical kann also Emanzipation befeuern. Aber kann Musical auch die politische Kultur einer Gesellschaft prägen?

Ich will das Musical nicht überhöhen. Aber man kann ein Gedankenexperiment wagen: Was wäre gewesen, wenn es in Russland Anfang der 2000er-Jahre eine Musicalkultur gegeben hätte, wie sie in den USA zeitgleich existierte?

Eine Kultur, in der Musicals an Highschools selbstverständlich waren, in der Diversität auf der Bühne alltäglich verkörpert wurde, in der das Broadway-Musical – neben Hollywood – die zweite große narrative Volkskultur war: Motor gesellschaftlicher Emanzipationsprozesse.

Hätte in einem solchen Russland so sehr das Feindbild vom „Gay Europe“ entstehen können? Ein gesellschaftsprägender Mythos, gegen den man sich verteidigen müsse – notfalls auch mit Waffen?

Nein, natürlich hätte das Musical den Ukrainekrieg nicht verhindert. Aber ich bin mir sicher: Ein Land, in dem Musicals ein integraler Bestandteil der Alltagskultur sind, hat andere, bessere Möglichkeiten, auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse zu reagieren als Nationalismus und Aggression.

Genau deshalb ist das Musical gerade heute so wichtig – nicht nur in Russland, sondern auch in den USA. In einem Land, in dem Bücher verboten, Minderheiten eingeschüchtert und progressive Stimmen kriminalisiert werden, ist das Musical eine Gegenmacht.

Einer der größten Gegenspieler Donald Trumps war von Anfang an kein lebender Politiker, sondern: Hamilton.

Als Mike Pence, Trumps zukünftiger Vizepräsident, im November 2016 eine Vorstellung von Hamilton besuchte, unterbrach das Publikum seine Ankunft mit Buhrufen – doch die Darsteller*innen blieben ruhig. Am Ende des Stücks trat Brandon Victor Dixon, der damals Aaron Burr spielte, nach vorn und sagte: „Sir, wir sind das vielfältige Amerika – und wir sind beunruhigt und besorgt, dass Ihre neue Regierung uns nicht beschützen wird: weder uns, noch unseren Planeten, unsere Kinder, unsere Eltern, und dass sie unsere unveräußerlichen Rechte nicht verteidigen wird.“

2016! Wie recht er hatte!

Doch das war kein Shitstorm-Moment, sondern Politik als Theater – und Theater als Politik. Ein musikalischer Appell an Verantwortung, direkt von der Bühne einer Broadway-Produktion an die neue Regierung.

Und genau deshalb ist Hamilton ein Gegenpol zu Trump: Weil es Diversität nicht als Bedrohung, sondern als Gründungsmythos der amerikanischen Demokratie erzählt. Weil es Einwanderer in die Rollen der Gründerväter stellt und damit sagt: Dieses Land gehört nicht denen, die Angst machen, sondern denen, die etwas aufbauen. Weil es Empathie, Bildung, Herkunft und Widerspruch als Kraft versteht – und damit genau jene Werte verkörpert, die autoritär denkende Systeme verachten.

Ja, Hamilton hat Trump zwar nicht verhindert. Aber je mächtiger die jetzige Trump-Regierung wird, umso mehr braucht Amerika Hamilton.

These 8: Musical ist Utopie

Wenn man die Welt verändern will, muss man sich eine bessere Welt vorstellen können. Politisches, emanzipatorisches Denken braucht utopisches Denken. Ein Ideal, das es nie geben wird. Das uns aber hilft zu verstehen, was sich ändern muss, damit es besser wird.

Musicals sind Utopie. Oft jedenfalls. Sie glauben an eine bessere Welt. Oder zumindest ihre Protagonisten.

There's a place for us,
Somewhere a place for us.
Peace and quiet and open air
Wait for us, somewhere.

West Side Story – „Somewhere“: Der Traum einer Welt ohne Hass und Grenzen.

Do you hear the people sing?
Singing the song of angry men.
It is the music of a people
Who will not be slaves again.

Les Misérables – „Do You Hear the People Sing?“ Utopie von Freiheit und Gerechtigkeit als kollektiver Gesang.

To dream the impossible dream,

Man of La Mancha – „The Impossible Dream“
Die Quintessenz des utopischen Denkens: das Unmögliche wollen.

Somewhere over the rainbow, way up high,
The Wizard of Oz – „Somewhere Over the Rainbow“
eine kindliche Utopie einer heilen, gerechten Welt, doch sie hat wirklich Politik gemacht.

Some things I cannot change,
But till I try, I'll never know.
Wicked – „Defying Gravity“ / Eine Utopie der Selbstermächtigung und Befreiung von gesellschaftlichen Normen.

Rent – „Seasons of Love“:
Five hundred twenty-five thousand six hundred minutes,
Measure your life in love.
Eine Utopie einer solidarischen, liebevollen Gemeinschaft.

The Greatest Showman – „This Is Me“
I am who I'm meant to be – this is me.
The Greatest Showman: Selbstakzeptanz als politische und emotionale Utopie.

The sunshine in.
Hair: Der Ruf nach Frieden, Liebe und Erleuchtung als Gegenbild zur Zerstörung.

Musicals sind in gewisser Hinsicht radikal. Weil sie sich weigern, die Welt so zu akzeptieren, wie sie ist.

Utopie ist kein Eskapismus. Keine Flucht vor der Realität. Sie ist der erste Schritt – zur Veränderung der Realität.

Let the sun shine in!

These 9: Musicals können helfen, gesellschaftliche Konflikte zu überwinden

Eine der gefährlichsten Bruchlinien unserer Zeit verläuft entlang eines künstlichen Gegensatzes: Identitätspolitik versus soziale Gerechtigkeit.

Seit einigen Jahren wird behauptet, die progressive Linke habe sich zu sehr mit sogenannter Identitätspolitik beschäftigt, also Gender, Diversität, Anti-Rassismus oder queerer Selbstbestimmung, und dabei die „wirklich wichtigen Themen“ vergessen: faire Löhne, soziale Sicherheit, Aufstiegschancen.

Diese Erzählung ist kein Zufall. Sie ist Teil eines Kulturkampfs, der in den USA begann und längst auch Europa erreicht hat. Donald Trump, Fox News und andere rechte Stimmen haben das Wort woke gezielt umgedeutet, was eigentlich für Empathie stand.

Wie der Guardian schrieb: „The word ‘woke’ has been weaponised by the right to turn awareness into arrogance, and empathy into elitism.“

Übersetzt also: Das Wort woke wurde von der Rechten zur Waffe gemacht, um Bewusstsein in Arroganz und Empathie in Elitismus zu verkehren.

Damit wurde ein Konflikt konstruiert: die sich moralisch erhebenden Städter gegen die „hart arbeitenden einfachen Leute“. Menschenrechtsthemen und Diversität wurden zu einer Spinnerei verwöhnter Spinner. Und das alles mit einem Unterton, den man heute gar nicht mehr aussprechen muss: „Haben wir gerade wirklich keine wichtigeren Probleme?“

Diese Frage ist keine neutrale Skepsis, sondern eine Abwertung von Identität als vermeintliches Luxusproblem.

Die Philosophin Nancy Fraser hat diese Spaltung schon 1998 auf den Punkt gebracht: „Justice today requires both – redistribution and recognition. Neither alone is sufficient.“

Gerechtigkeit erfordert also beides – Umverteilung und Anerkennung. Doch genau diese Verbindung ist im öffentlichen Diskurs verloren gegangen.

Wie eine Studie in Nature Human Behaviour zeigt: Polarisierung gedeiht, wenn Empathie über Grenzen hinweg verschwindet.

Und jetzt kommen wir zum Thema: Wie gut, dass es das Musical Billy Elliot gibt.

Das Stück spielt im Milieu des britischen Bergarbeiterstreiks der Thatcher-Ära: Eine Klasse kämpft um ihre Existenz, die Minen schließen, der Stolz der Arbeiter bricht.

Mitten in diesen Kampf entdeckt der Sohn eines Streikführers seine Leidenschaft für das Ballett. Plötzlich steht nicht nur der Vater vor genau jener Frage, die unsere Gesellschaft spaltet: „Haben wir gerade wirklich keine wichtigeren Probleme?“

Was hat ein tanzender Junge mit den Nöten der Arbeiterklasse zu tun? Zunächst scheint die Antwort klar: gar nichts. Ballett ist elitär, unverständlich, „nicht unsere Welt“. Doch das Stück zwingt alle Figuren – und das Publikum –, genau diese Trennung zu hinterfragen.

Je weiter die Geschichte voranschreitet, desto deutlicher wird: Billys Wunsch zu tanzen ist kein Eskapismus, sondern eine andere Form des gleichen Kampfes. Er will dasselbe wie sein Vater – Würde, Selbstbestimmung, Zukunft. Sein Ausdruck ist nur ein anderer.

Als die Bergleute – selbst vom Untergang bedroht – am Ende Geld für Billys Aufnahmeprüfung sammeln, geschieht etwas Großes: Die Arbeiter erkennen, dass soziale Gerechtigkeit ohne Identität leblos und Identität ohne Solidarität leer ist.

Sie verstehen, dass ihr Kampf um materielle Existenz und Billys Kampf um Ausdruck und Selbstbestimmung zwei Seiten derselben Medaille sind. Damit bietet Billy Elliot das, was der politische Diskurs heute kaum noch schafft: eine Erzählung der Versöhnung.

Es zeigt, dass sich soziale Fragen und Identitätsfragen nicht ausschließen, sondern einander vollenden. Und es tut das nicht belehrend oder abstrakt, sondern emotional und ganz konkret. Sie verwandeln den Vorwurf „Ihr mit eurer Identitätspolitik!“ in den Gedanken: „Vielleicht ist das ja auch mein Kampf.“

Und das durch Empathie, durch gegenseitiges Erkennen, durch das gemeinsame Erleben einer geteilten Würde.

Und das ist nicht weniger als eine Antwort auf die politische Polarisierung unserer Zeit. Billy Elliot ist mehr als ein Stück über einen tanzenden Jungen. Es ist ein Modell für den gesellschaftlichen Dialog, den wir verloren haben.

Wenn das staatlich subventionierte Theater der Ort sein soll, an dem wir gesellschaftliche Fragen verhandeln – warum erzählt es dann so selten Geschichten, die das auch wirklich tun?

Welche deutsche Oper oder welches Stadttheater hat es in den letzten Jahren geschafft, Identität und soziale Gerechtigkeit gemeinsam zu denken, Brücken zu bauen und dabei eine breite Gesellschaft im Innersten zu erreichen?

Das Stück Billy Elliot tut genau das. Es bietet das, wonach gerade alle suchen: einen gemeinsamen Boden, der eine wirkliche Auseinandersetzung ermöglicht. Einen Ort, an dem Menschen den Common Sense wieder fühlen, den wir als Gesellschaft verloren haben.

Und das Bittere daran: Billy Elliot müsste also eigentlich an jedem Stadttheater gespielt werden. Doch es war nicht die subventionierte Hochkultur, die sich traute, das Stück in deutschsprachiger Erstaufführung aufzuführen, sondern eine private Produktion in Zürich – aus Risiko, Leidenschaft, Überzeugung.

Warum gibt es so wenig relevantes Musical in Deutschland? Warum unterschätzen wir das Genre Musical so sehr? Warum gerade jetzt, wo wir es so dringend brauchen?

Billy Elliot haben seit der Premiere in Zürich bereits 100.000 Menschen gesehen.

These 9: Das moderne deutsche Musical existiert – aber es darf nicht glänzen

Auch in Deutschland gibt es mutmachende Beispiele: Peter Plate und Ulf Leo Sommer investieren gerade ihr eigenes Geld, um im Theater des Westens Neues auszuprobieren. Das verdient mehr als unsere Hochachtung.

Und ja, es gibt die vielen Theatermacher*innen, die sich wirklich was trauen – oft die, die es sich am wenigsten leisten können, in der freien Szene, in den Privat- und Off-Theatern und natürlich auch in den Nischen des staatlichen Theaters. Es ist ja nicht so, dass es in Deutschland keine guten, relevanten, modernen Musicals gäbe.

Im Gegenteil: Es gibt sie. Nur bekommen sie selten die Chance, das auch zu beweisen.

Man denke nur zum Beispiel an die Stücke von Tom von Hasselt, Franzi Kuropka und Lukas Nimschek. 

Und natürlich die von Peter Lund, der seit vielen Jahren zeigt, dass das deutsche Musical längst gesellschaftlich relevant sein kann – wenn man es lässt.

Lunds Stücke erzählen von sozialer Ungleichheit (Das Wunder von Neukölln), digitaler Einsamkeit (Online), Gentrifizierung und Wut (Welcome to Hell) oder weiblicher Selbstermächtigung (Grimm!). Das sind alles keine Randthemen. All das ist gerade mitten in der Gesellschaft.

Ich finde Grimm „Broadway-fähiger“ als vieles, was tatsächlich am Broadway läuft. Musikalisch stark, klug gebaut, mit Witz, Herz und Haltung. Es könnte echtes Volksmusical sein, im besten Sinn – mit Songs, die hängen bleiben, Charakteren, die uns etwas angehen, und Themen, die mitten in unsere Zeit gehören.

Aber statt Grimm und viele andere Stücke als modernes Volkstheater zu begreifen – also als Theater, das unterhält und Gesellschaft spiegelt und bewegt – behandelt man sie wie Randphänomene. Sie laufen oft nur, wenn überhaupt, an Hochschulen, auf kleinen Bühnen, in kurzen Serien – und verschwinden dann wieder, statt sich zu entwickeln und groß zu werden.

Dabei hätten genau diese Produktionen das Zeug dazu, das Musical in Deutschland neu zu definieren: als populäre Kunstform, die Kopf und Herz erreicht, die anschlussfähig ist – aber nicht anbiedernd.

Doch die Dramaturgien und Intendanzen setzen lieber auf Sicherheit. Da muss etwas passieren! Bei aller Liebe, liebe Theatermacher*innen: La Cage aux Folles ist 50 Jahre alt. Warum haben sich die Leute damals mehr getraut, als ihr es heute tut?

Wir erleben den paradoxen Zustand, dass das deutsche Musical zwar Talent, Ideen und Geschichten hat – aber kein System, das sie groß werden lässt.

Das Ergebnis: Unser Land kann Musical, aber es darf nicht.

Und wer soll das alles ändern? Na: Wir!

Ich meine: Ihr!

Ihr seid die Zukunft des Genres. Ihr bestimmt, was Musical in Deutschland ist, was es erzählt, wie es klingt, wen es berührt. Ihr sagt vielleicht: „Aber dazu haben wir doch gar nicht die Macht.“

Doch ist das so?

Lasst uns darüber reden. Lasst uns ein neues Selbstbewusstsein entwickeln. Für das Musical. Aber auch für uns.

Und da Musical ruhig mit Pathos enden darf, ja vielleicht sogar muss, sage ich es hier einmal so:

Für das Musical. Für uns. Aber auch für unsere Gesellschaft. Unser Land braucht das Musical. Unser Land braucht uns!